Die Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrates veröffentlicht die Realität einer Abschiebung
von Osman Oğuz
(hier geht es zum Original-Beitrag vom 24. September)
Es war eine gewöhnliche Abschiebung aus Neustadt in Sachsen.
Eine 9-köpfige Familie – Mutter, Vater und 7 Kinder – aus Mazedonien wurde aus ihrer Unterkunft in der Friedrich-Engels-Straße abgeholt: von mehreren Polizeiautos und einem Bus. Es war am 10. September gegen 15 Uhr und alles musste so schnell wie möglich gehen, denn das Flugzeug konnte ja nicht warten. So plötzlich, wie sie hier im Stadtteil gelandet waren, wurden sie auch aus ihrem Leben gerissen – das sieht man noch heute an den Spuren, die sie hinterlassen haben: die Blumen, die sie auf dem Fensterbrett zurückließen, die Picknickdecke, die herumliegt, oder ihre Sachen, die auf dem Sperrmüll gelandet sind.
Die Familie A. war seit knapp drei Jahren in Deutschland und erst seit sechs Wochen in dieser Wohnung in einem “Neubaugebiet”, wie es in der DDR hieß – in den Plattenbauten oder Blocks, würde man heute eher sagen. Viele ihrer Nachbar:innen waren nicht glücklich darüber, dass sie hierher geschickt wurden, und einige ihrer Nachbar:innen waren im Gegenteil sehr offen für ein Kennenlernen. Ronny, einer der Offenen, rief uns nach der Abschiebung an und sagte, dass er, seine Lebensgefährtin und Monika, eine andere Nachbarin, die Familie sehr vermissen und nicht wissen, wie sie sie jetzt finden sollen. Die Abschiebung kam plötzlich und sie konnten sich nicht einmal richtig verabschieden. Die Telefonnummer aus Deutschland ist nicht mehr erreichbar und die Suche über Facebook war bisher erfolglos.
Auch für mich, der den Anruf entgegennahm, war es plötzlich: Eine aufgeregte Stimme berichtete von einem, wie gesagt, gewöhnlichen Vorfall, der, wie die Bundesregierung freudig verkündet, immer häufiger vorkommt. Ungewöhnlich war der Anruf von Ronny, der ein Haus weiter wohnt. Er konnte es nicht fassen, dass so viele Polizist:innen da waren, um die Familie mitzunehmen, die er in den letzten sechs Wochen fast jeden Tag gesehen hatte, mit der er auf der Picknickdecke gesessen und Essen ausgetauscht hatte. „Leider Gottes“, sagte er am Ende und wurde emotional, „diese Nachbarn, die applaudiert, gepfiffen und Sachen gerufen haben – die kann ich überhaupt nicht verstehen“.
Er würde die Familie am liebsten sofort zurückholen und mache sich Sorgen, wie vor allem die Mutter, die im Rollstuhl sitzt, zurechtkommen soll. Er vermisst die Kinder, besonders die dreijährige Tochter, die sehr warmherzig war. Er war gerade dabei, eine Arbeit für den Vater zu suchen, der immer gesagt hatte, er wolle arbeiten und damit beweisen, dass er nicht faul sei, wie die Hetze gegen Geflüchtete behauptet. Jetzt brauche Ronny Hilfe, um die Familie zu finden und im besten Fall wieder zurückholen zu können. „Jetzt ziehen die nächsten Kandidaten in die gleiche Wohnung ein“, fügt er am Ende hinzu und wird wieder emotional. Wie soll er denn auf die neuen Nachbar:innen zugehen und eine Beziehung zu ihnen suchen, wenn ständig die Angst da ist, dass auch sie irgendwann weggerissen werden?
Nach dem Anruf entschließen wir uns, in die Stadt zu fahren und uns mit den Nachbar:innen der abgeschobenen Familie zu treffen.
Verlassenheit
Neustadt in Sachsen ist eine Stadt im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit knapp zwölftausend Einwohner:innen. Zu DDR-Zeiten war die Stadt ein Zentrum des Landmaschinenbaus und damit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Außerdem gab es eine gut funktionierende Kunstblumenindustrie. Die Plattenbauten, die wir besichtigten, wurden ebenfalls in dieser Zeit gebaut und waren ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens: Heute sieht man eher die Verlassenheit und den Leerstand als die Menschen, die dort leben. Auf den riesigen Grünflächen zwischen den Blocks sind nur vereinzelt Menschen, die sich nur zu einem vorsichtigen „Hallo“ hinreißen lassen. Der Altersdurchschnitt ist sehr hoch. Vieles von dem, was der Stadt früher Identität, Gemeinschaftsgefühl und Wirkkraft gegeben hat, ist heute fast verschwunden, und das merkt man auch in der Innenstadt: Alles ist sehr sauber und gepflegt, wie in den Stadtteilen, aber es fehlt etwas Wichtiges: die Menschen, die es mit Leben füllen. Die zahlreichen Physiotherapiepraxen scheinen hier die am weitesten verbreiteten Unternehmen zu sein.
Vor dem Haus der abgeschobenen Familie warten schon die Nachbar:innen, die sich bei uns gemeldet haben: Ronny, Monika, Karin, Bernd und Erich. Wir kommen schnell ins Gespräch – eine Folge ihrer bereits erwähnten Offenheit. Die dreijährige Tochter der Familie A. habe Monika gleich an ihrem ersten Tag hier, als sie mit ihrem Hund spazieren ging, gesehen und begrüßt: „Schon am zweiten Tag kam sie zu mir gelaufen, als sie mich auf der Straße sah, hielt meine Hand und sagte: ‚Omi’“, erzählt sie gerührt und fügt hinzu, dass sie sich sehr schnell mit der ganzen Familie angefreundet habe, so dass sie sie auch zu Hause besucht und zu Spaziergängen überredet habe. Manchmal saßen sie auch auf der Wiese und machten Picknick. Sie zeigt auf die Picknickdecke, die jetzt zusammengerollt unter einem Baum liegt: Als Symbol für die Traurigkeit, die immer noch da ist. Auch die Blumen auf ihrem Fenster, einige von Monika geschenkt, mussten sie zurücklassen: Bis auf eine sind sie bereits verwelkt.
Die Abschiebung fand an einem Dienstag statt. Monika erzählt, dass sie am Sonntag mit der Familie zu Abend gegessen hat. Am Montag hat die Mutter der Familie A. ihr dann einen Teller Essen vorbeigebracht: „Ich habe gesagt, ich kann dir den Teller aber erst morgen zurückgeben. Dann ist morgen, am Nachmittag schaue ich von meinem Balkon raus und sehe vier Polizeiautos. Auch an den Straßenecken standen Polizisten. Da bin ich runtergegangen und habe verstanden, was los ist. Die Mutter hat geweint, da hab ich sie gedrückt. Dann nahm ich das Mädchen hoch und ein Polizist schrie mich an: ‚Lassen Sie das Kind runter!’“
“Endlich sind die Kanacken weg!”
Wir fragen Karin, ob sie die Abschiebung auch beobachtet hat. Sie erzählt, mit Ergänzungen und Zustimmungen von den anderen, von den jubelnden Nachbar:innen. Auch sie haben die Abschiebung spontan mitbekommen und sich offenbar gegenseitig durch Klatschen, Pfeifen und Rufen angefeuert. Was haben sie denn gerufen? „Endlich sind die Kanacken weg!“ und „Jawohl, bringt die weg!“, erinnert sich die Gruppe. Karin sagt, dass einige Nachbar:innen sie „von vornherein nicht riechen konnten“ und erzählt noch von Vorurteilen: „Die waren dreckig und haben gestunken“, hätten viele gedacht. Wie kommt es, dass Menschen sich am Leid anderer erfreuen? Diese Frage lässt uns alle kurz innehalten. Moni, so will sie genannt werden, erinnert sich hier auch noch einmal an das Verhalten der Polizei und sagt, dass die Polizist:innen nur mit Handschuhen in die Wohnung kamen und die Familie angefasst haben – es ist wohlgemerkt von Menschen die Rede, mit denen sie gerne Essen getauscht haben. „Die Polizei“, erzählt sie entsetzt, „hat trotz der schrecklichen Sprüche nichts gegen die jubelnden Menschen unternommen“.
Familie A. war zuvor in Sebnitz in einer Unterkunft, die von jungen Neonazis angegriffen wurde, woraufhin in der Stadt eine Solidaritätsdemonstration mit den Angreifern stattfand. [1] Sie sind von Anfang an mit dem Wissen gekommen, dass sie in diesem Land echte Feinde haben, dass ständig über sie geredet wird. Zwei ihrer Kinder werden nun ihr Leben lang den Namen „Sebnitz“ in ihrem Personalausweis tragen, und alle in der Familie werden sich daran erinnern, wie sie gesehen und behandelt wurden, wie sie hier mit Handschuhen angefasst, hin- und hergeschoben und schließlich abgeschoben wurden, während alle anderen nur über ihre schönen Urlaubspläne reden wollten. Wenn die strukturelle Ungleichheit, die sie am härtesten trifft und die sie in dieser Welt umherirren lässt, selbst für sie eher unerklärlich bleibt, werden sie sich wohl an ihre alltäglichen Gefühle klammern müssen und man kann nur hoffen, dass sie sich eher an die Solidarität von Ronny, Monika, Karin, Bernd und Erich erinnern als an die klatschenden Nachbar:innen.
Auf der Wiese diskutieren wir noch eine Weile über das Thema und seine politischen Ausprägungen im Allgemeinen und Erich wiederholt von seinem Stuhl aus: „Wir müssen zusammenhalten – wir sind alle Menschen!“ Dann versuchen wir noch einmal, die Familie A. zu erreichen, die sich inzwischen in Mazedonien durchzuschlagen versucht und zu der Ronny nach langer Suche inzwischen Kontakt gefunden hat. Leider antworten sie nicht auf unsere Anrufe. Monika zeigt uns aber die Sprachnachrichten, die sie von ihnen erhalten hat: Der Junge, der in Deutschland die Schule begonnen hat, teilt ihr in der ersten Nachricht mit einem trockenen Satz mit: „Wir sind abgeschoben“. In der nächsten Nachricht ist er aber wütend und sagt etwas lauter und buchstabiert: „Deutschland hat uns abgeschoben“. In einer Sprachnachricht spricht dann das 3-jährige Mädchen: „Was machst du Moni? Alles gut?“
Die Gruppe “Offenheit”
Die Gruppe „Offenheit“ (so möchte ich sie nennen) wirkt jetzt sehr verunsichert, aber irgendwie besser gelaunt als die grimmigen Gesichter hier und da. Am Ende schenkt uns Erich eine Tüte Schokolade, damit wir trotz des schwierigen Themas etwas zu genießen haben. Ob sie mit ihrer Haltung die Mehrheit im Viertel repräsentieren, ist unklar, aber man weiß, dass hier viele ihre Unzufriedenheit eher in dieser oder jener Feindseligkeit gegenüber Schwächeren ausleben, als sich mit den Ursachen und gemeinsamen Lösungen ihrer Probleme zu beschäftigen – sie verschließen sich immer mehr und müssen immer aggressiver werden, um ihre Verschlossenheit zu rechtfertigen. Man darf sich aber von diesem Getöse nicht täuschen lassen, ist mein Gefühl: Die Gruppe „Offenheit“ ist doch nicht schwach, weil sie im Gegensatz zu den „Verschlossenen“ auf Gemeinschaft setzt. Das Problem ist nur, dass sie kaum an eine Perspektive anknüpfen können, die ihnen Hoffnung und Freude am gemeinsamen Schaffen gibt. Sie sind es, die sich in nur sechs Wochen und mit einer völlig unbekannten Familie, die noch dazu eine andere Sprache spricht, ins Herz schließen können – für diesen Willen und diese Fähigkeit braucht es nur einen soliden Plan.
[1] Habe ich die Familie getroffen, als wir nach dem Angriff in Sebnitz waren? Ich erinnere mich jedenfalls an eine große türkisch sprechende Familie aus Mazedonien, die in der Unterkunft wohnte und deren Tochter mir die Überschrift des verlinkten Berichtes gegeben hatte: „Abi, die Verrückten sind aus der Anstalt ausgebrochen!“. Aber auch ich kann die Familie nicht erreichen, um diese Frage zu klären. Fest steht, dass sie zum Zeitpunkt des Überfalls genau in der Unterkunft gewohnt haben.
Bilder: Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.