25. Juni 2024
Expertise von Dr. Felix Hoffmann für den Rat für Migration

Ein Präzedenzfall auf dem Weg in die elektorale Autokratie: Zur
entpolitisierenden Neutralisierung der Zivilgesellschaft durch den Sächsischen
Rechnungshof und zur Zerschlagung des Dachverbands Sächsischer
Migrant*innenorganisationen

Korruptionsgefährdete Strukturen ohne Korruption

Im März diesen Jahres wurde der Dachverband Sächsischer Migrant*innenorganisationen (DSM) – bisher einzigartig in Deutschland – durch die Empfehlungen eines Sonderberichts des Sächsischen Rechnungshofs vom Dezember 2023 mittelbar befördert in die Insolvenz getrieben. Teilweise bereits 2015 bewilligte, geprüfte und abgerechnete Fördergelder wurden von der Sächsischen Aufbaubank zurückgefordert und ein bereits für 2024 bewilligtes Großprojekt wurde gestrichen. Anträge mit aufschiebender Wirkung wurden kurzfristig abgelehnt, Verwaltungsakte wurden zusammengelegt und weitere Rückforderungen standen im Raum, so dass die Insolvenz unabwendbar war.

Insbesondere zwischen dem Sächsischem Sozialministerium und der Sächsischen Aufbaubank war es letztlich aufgrund mangelhafter Verfahrensregeln der erstmals 2015 unter Hochdruck entwickelten „Förderrichtlinie Integrative Maßnahmen“ immer wieder zu problematischen Formen der Zusammenarbeit in der Fördermittelvergabe gekommen. Dabei wird im Sonderbericht des Rechnungshofs immer wieder von „korruptionsgefährdeten Strukturen“ ausgegangen, nicht jedoch von Korruption. Insbesondere jedoch zielt die Kritik des Sächsischen Rechnungshofs auf den politischen Einfluss des Sozialministeriums in der Fördermittelvergabe sowie auf die politischen
Positionierungen der Trägerlandschaft selbst.

Es handelt sich um eine Trägerlandschaft, in der sich wohl kaum jemand ernsthaft bereichern könnte
und in der im Gegenteil ein Höchstmaß an gesellschaftlichem Wohlwollen und prinzipiellem sozialem
Verantwortungsbewusstsein herrscht. Zudem ist die Anzahl derjenigen Akteure in Sachsen, die
fachlich qualifizierte, ebenso wie politisch wie fachlich wünschenswerte Angebote machen können,
gering und im Falle Migrantischer (Selbst-) Organisationen ohnehin begrenzt. Sie sind damit
weitgehend konkurrenzlos. Es sind grundlegend demokratisch orientierte, reflexiv (selbst) kritische und kritikoffene Vereine, Initiativen und Verbände migrantischer (Selbst-) Organisationen und der Sozialen Arbeit, deren Engagement gerade erst durch das erste sächsische Integrations- und
Teilhabegesetz6 legitimiert wurde. Insbesondere migrantische Interessenvertretungen und damit
durchaus politische Organisationen, die maßgeblich zur migrationsgesellschaftlichen Öffnung der
Gesellschaft beitragen können, sollten nun gesetzlich gefördert werden.

Der wiederholte Hinweis auf prinzipiell korruptionsgefährdete Strukturen im Sonderbericht ist
sachlich richtig. Durch die Ausklammerung der hier genannten Charakteristika der Förderlandschaft
entsteht jedoch der Eindruck, dass Korruption praktiziert, jedoch lediglich nicht nachgewiesen wurde.
Die AfD titelte in einer Sondersitzung des Sächsischen Landtags sogleich „Sachsen Sumpf 2.0 trockenlegen“, nachdem ein Vorbericht des offiziellen Sonderberichts im Sommer 2023 durchgestochen worden war. So argumentiert der SRH, das nach seiner Auslegung des Art. 83 der
Sächsischen Verfassung das federführende Sächsische Staatsministerium für Soziales und
Gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht unmittelbar an Einzelentscheidungen der
Fördermittelvergabe hätte beteiligt sein dürfen. Im Falle von „Milliardenbeträgen“, also in Fällen, in
denen quantitativ weit größere Anreize zur Korruption bestehen, sei eine politische Einmischung von
Ministerien hingegen legitim. Der Rechnungshof konterkariert mit diesem Standpunkt die eigenen
politischen Enthaltsamkeitsforderungen.

Hier wäre eine enge Zusammenarbeit zwischen überparteilicher Politik, Trägerlandschaft und nicht zuletzt entsprechenden Fachverbänden gerade in der Entwicklungsphase nötig und wünschenswert gewesen, die sich gerade nicht allein nach vermeintlich objektivierbaren Wettbewerbsmaßstäben in der Mittelvergabe richtet, sondern zumindest in den ersten Jahren der Erprobung der Richtlinie einzelfallbezogen sowohl nach Qualifikation und politischer Zielsetzung.

Gesamtgesellschaftlich strukturelle Intransparenz

Die im Sonderbericht genannten Beispielfälle, etwa von schwerlich abrechenbaren politischen Betätigungen, fragwürdigen Personal- oder Gehaltsentscheidungen oder einzelnen parteipolitischen
Stellungnahmen von Migrantischen (Selbst-) Organisationen oder anderen Fördermittelempfänger*innen, zeugen durchaus von teilweise eklatantem Unwissen in Hinblick auf
die Gesetzeslage. In Ihrer Offenheit und damit offenbaren Sorglosigkeit auch nach den beginnenden
Prüfungen des Rechnungshofs in der Trägerlandschaft 2021, kann jedoch in Hinblick auf Dieselbe
gerade nicht von Verheimlichungsabsichten ausgegangen werden, wie es der Rechnungshof auf
seiner Pressekonferenz zum Sonderbericht im Dezember 2023 gleich zu Beginn suggeriert hat.
Insbesondere die Tatsache, dass der Dachverband Sächsischer Migrant*innenorganisationen 2017
ohne Notwendigkeit die Rechtsnachfolge des Integrationsnetzwerks Sachsen übernommen hatte zeigt deutlich, dass sich die Verantwortlichen damals kaum einer ohnehin noch längst nicht festgestellten „Schuld“ bewusst gewesen sein können: Gerade auch für Projekte des Integrationsnetzwerks unter der damaligen Förderrichtlinie zwischen 2015 und 2017 wurden Gelder
zurückgefordert.

Im Kleinen des administrativen Alltags in der Trägerlandschaft ist es jedenfalls nicht verwunderlich,
dass kaum ein*e Fördermittelempfänger*in es sich leisten könnte, Bedenken an administrativen
Verfahren insgesamt oder gar eine Problematisierung eigener unsicherer Abrechnungspraktiken
öffentlich anzusprechen. „Wenn wir den Kopf aus der Masse heben, wird er uns abgeschlagen“,
kommentierte eine leitende Angestellte eines großen Trägers den beständigen Existenzdruck, bei
allem möglichen mitspielen zu müssen, um sich die Gunst von Politik und Verwaltung zu erhalten.

Das gesamte Rechtsgutachten enthält ein Quellenverzeichnis zum eben ausgeführten Text, als auch weiterführende Informationen zum destruktiven Prüfverfahren und die Betrachtung der Situation als Präzedenzfall.